Sonntag, 31. März 2013

Nudeltaschen

Nudeltaschen oder Jiaozi gehören zu den chinesischen Gerichten, die Luo You besonders gerne mag. Bei einem kürzlichen Spaziergang am Guan Yin Shan, einem Erholungsgebiet mit spitzen Bergen, Klöstern und vielen Verkaufständen, im Dashe Distrikt der Stadt Kaohsiung gelegen, tauchten diese in einem unerwarteten Zusammenhang auf.

Während es sonst in der chinesischen Küche um essbare Taschen aus Nudeln und Teig geht, bot dieser Verkaufsstand in seltener Kombination Nudeln, Tragetaschen und andere Textilien an. Möglicherweise gibt es in der Familie, die den Verkaufsstand betreibt, einen Zweig, der sich dem Taschen- und Textilvertrieb widmet, sowie einen Ableger, der in die Nudelherstellung eingestiegen ist.

In diesem Sinne kann, wer eine Tasche erwirbt, diese umgehend und übertragen zu einer Nudeltasche machen, indem er entsprechend Nudeln hinzu kauft und diese dann mit der neuen Tasche transportiert.

Am Wochenende ist übrigens von Guan Yin Shan abzuraten. Aufgrund der Menschenmassen, die sich zwischen den Verkaufständen am Samstag und Sonntag hindurchschieben, geht der Raum für die Erholung ziemlich verloren. Da bleiben Berge und Klöster auf der Strecke. Die Regel lautet dann weniger als 20 % Attraktion, die eigentlich Grund für das Kommen gewesen sein sollte, mehr als 80 % an dem üblichen gewerblichen Drumherum.

Durch den Bau von Unterständen und überdachter Säulengange für die Verkaufsstände, wurde versucht den Besucherstrom am Wochenende zu lenken und dem ganzen einer mehr stationären Charakter zu geben. Ein großer Platz vor dem Eingangstor lädt zum Treffen und Aufenthalt ein und bildet quasi das Rückhaltebecken bei den Besucherspitzen.

Doch zeigen sich bei den Neubaumaßnahmen einige Schwierigkeiten hinsichtlich der Besonnung und der Eigenständigkeit taiwanischer Gewerbetreibender. Aber das quirlige urbane Leben findet seinen Weg. Neben kirmesartigen Attraktionen für Kinder und Schießbuden, Karaoke, Imbissständen und Snacks werden auch Obst und Gemüse örtlicher Händler und Hersteller zu marktüblichen Preisen angeboten. Ein gut gebrühter und gefilterter Kaffee fand sich am Arabica-Kaffeestand.

Der Fluch des ICE 811

Der Titel bezieht sich zum einen auf den letzten Film den ich auf Taiwan im Fernsehkanal von „Höllywood“ gesehen habe. „Piraten der Karibik - Der Fluch der schwarzen Perle“ wurde gezeigt. Bei einer längeren Werbeunterbrechung um Mitternacht, die wiederholt ein Produkt zum Schlankerwerden mit offenbar gleichzeitiger optimaler Busen- und Poformung anpries, bin ich eingeschlummert und konnte gerade noch den Fernseher ausschalten.

Der ICE 811 war der Ausgangspunkt der vermutlich miserabelsten Anreise nach Taiwan, die ich je erlebt habe. In etwa planmäßig kam ich noch mit Bus und Regionalbahn den Erwartungen entsprechend am 13. März 2013 nach Köln. Doch dann folgte eine Überraschung der anderen.

1. Aufgrund der winterlichen Verhältnisse kam der ICE für die Fahrt von Köln nach Frankfurt erst mit einer halben Stunde Verspätung aus dem Depot. Wer hätte geahnt, dass im Winterhalbjahr in Deutschland winterliche Verhältnisse herrschen. Der Reisende konnte nur spekulieren, wo das konkrete Problem lag. Hatte der Zugführer bereits die Sommerreifen aufgezogen und war deshalb zu spät an seinem Einsatzort erschienen? Ist die Heizung des Zuges im Winter genauso schwach ausgelegt wie seine Klimaanlage für den Sommer? Oder war einfach vergessen worden, sie am Morgen rechtzeitig einzuschalten?

2. So rollte der deutsche Hochgeschwindigkeitszug mit einer halben Stunde Verspätung in den Kölner Hauptbahnhof. Prima lief es auf den Minuten bis zum nächsten Bahnhof Siegburg. Dort stoppte eine polizeiliche Untersuchung „auf unbestimmte Zeit“ den gesamten Zugverkehr auf die Schnellfahrstrecke nach Frankfurt. Da entwickelt der Wartende Zeitvorstellungen die von Tagen bis Ewigkeiten gehen. Käme ich etwa noch in dem Genuss bei einer Umleitung des Zuges, mir die Loreley um die Mittagszeit anschauen zu können? „Keine Airline der Welt hat dafür Verständnis“ schallte es im Waggon.

Die polizeiliche Streckensperrung dauerte nach einer späteren Durchsage kurz vor der weiteren Zuganfahrt insgesamt eine Stunde. Die Verspätung des Zuges nahm dadurch weiter zu.

3. Durch die lange Wartezeit kamen nicht nur in Bonn mehr Passagiere in den verspäteten Triebwagen, die eigentlich einen nach Fahrplan späteren Zug nehmen wollten. Dadurch füllten sich die Wagen auch an den Kurt Beck gewidmeten Halten Montabauer und Limburg. Der Zugführer kochte im Hinblick auf die von ihm einzuhaltenenden Vorschriften. Reisende sollten das Fahrzeug verlassen und den Zug nehmen, der angeblich in einem Abstand von 15 Minuten folgte. Nur wenige trauten dem. Auch das Zugpersonal, das noch die Fahrkarten nach Abfahrt in Köln kontrollierte, hatte seinen Wagemut zum direkten Kontakt mit der Kundschaft verloren. Fürchtete die junge blonde Schaffnerin den Volkszorn? So kamen die wiederholten Aufforderungen zum Verlassen des Zuges nur gesichts- und namenlos über Lautsprecher. Die aggressiven Rufe aus dem Wagen nahmen zwischenzeitlich beleidigenden Charakter an. „Die Flexibilität, die die Bahn von uns erwartet, sollte sie jetzt auch selber zeigen“, gehörte zu den rationalen Äußerungen.

Der Zugführer drohte damit, die Fahrt überhaupt nicht mehr fortzusetzen und alle rauszuwerfen. Keiner bewegte sich. Mein Sitznachbar diskutierte mit mir, ob es technisch möglich ist, bei dem eingeschränkte Gleisplan überhaupt den Nachfolgezug an einen anderen Bahnsteig halten zu lassen. Ich sah die richtige Entscheid darin, nur noch zum Aussteigen an den Kleinbahnhöfen zu halten und Einstiege generell auf den nachfolgenden Zug zu beschränken. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Irgendwann ging es aber doch weiter, so dass sich meine Fragen erübrigten, ob ich negativen Folgen der Organisationsunfähigkeit meines Vertragspartners Deutsche Bahn so weit zu tragen habe und eine Einschränkung meiner Freiheit und Mobilität in diesem Umfang hinnehmen muss.

4. Klar, der Check-In-Schalter am Fernbahnhof des Frankfurter Flughafens hatte mal wieder geschlossen, obwohl er im Internet angepriesen wird und so sinnvoll für den Zugreisenden ist. Also im Linienbus gegenseitig das Gepäck vor die Füße werfen und von einem Terminal zum anderen Schaukeln. Dabei werden die Businsassen in dem unzulänglichen Provisorium und Ausdruck einer Fehlplanung auch noch belobigt, dass sie sich für den Flughafen Frankfurt entschieden haben. Wo sind denn die hinsichtlich Zeitaufwand und Preisen vergleichbaren Entscheidungsalternativen fragen sich die Reisenden, während sie über Rucksäcke und Reisetaschen klettern?

5. Überraschung am Check-In-Schalter im Terminalgebäude. Es wird herum telefoniert, mit den Kolleginnen hinter dem Tresen gesprochen und trotzdem gibt es keine Boarding-Karte von Taipei nach Kaohsiung. Der Koffer wird aber nach Kaohsiung ausgezeichnet. Ich soll in Taipei an den Transferschalter gehen. Da lässt sich das weitere regeln. Um es vorweg zu nehmen: Mittlerweile werde ich paranoid und nervös, wenn bei der Abfertigung am Flughafen zum Telefonhörer gegriffen wird.

6. Vor dem Gate werden in Frankfurt nochmals Boardingkarte und Reisepass kontrolliert. Die Angestellte schaut sich meine Unterlagen sehr genau an: „Wie kommen Sie denn von Hongkong nach Bali? Haben Sie schon genaueres geplant?“ „Ich will gar nicht nach Bali“, sage ich. Mein Gegenüber beginnt mit einem Kollegen in schicker Flughafenuniform zu diskutieren. Sie wendet sich wieder an mich, geht nochmal auf dem Bildschirm die Liste durch. „Sind sie denn nicht Herr Honz?“ Der Name klingt tschechisch. Ich kann ihn nicht genau verstehen. „Nein“, sage ich, „mein Name ist Luo. Hier schauen Sie!“ Ich zeige ihr mein E-Ticket: „Dafür habe ich bezahlt. Bali ist sicherlich auch ein schönes Reiseziel. Heute will ich aber nach Kaohsiung. Ich werde dort erwartet.“ Die Dame, die ich auf ungefähr 55 Jahre schätze, prüft noch einmal alles: „Stimmt, das sind Sie gar nicht. Jetzt sind Sie aber wach geworden.“ Ich kann ihr wieder nicht zustimmen und sage, „Nein, für das Wachwerden hat schon der Reisepartner Deutsche Bahn gesorgt. Sie können mich nicht mehr erschüttern.“

7. Der Flug war insgesamt angenehm. Zwar konnte ich in dem Durcheinander nicht meinen Vorzugssitzplatz anfragen. Wenn der Flieger - wie an dem Tag - genug leeren Raum besonders im eigenen Umfeld hat, spielt das aber keine Rolle. Der Platz neben mir war leer. Ansonsten verteilte sich eine vermutlich tschechische Mädchengruppe, altersmäßig etwa Mitte 20, in der Nachbarschaft. Alle trugen schwarze T-Shirts mit der rosafarbenen Aufschrift „Go Bali 2013“.

Meinen Bali-Urlaub hätte ich fast noch in taiwanischen Landkreis Nantou komplettiert. Hier hatten wir als kleines Gästehaus das Bali Resort in engere Wahl gezogen. Wir haben uns aber dann noch kurzfristig für den Aufstieg in Richtung Alishan entschieden. Meine Frau liebt die Berge und wollte sie wieder einmal sehen.

Ankunft Taipei am nächsten Morgen. Ich verlasse den Flieger und steuere auf die nächste Betreuerin von der Airline mit der Frage auf den Lippen, wo ist der Transferschalter ist und wie geht es weiter, da realisiere ich, dass sie ein etwa DIN A4 großes Schild beschrieben mit meinem Namen und in kleinerer Schrift darunter die Flugbezeichnung und das Buchstabenkürzel KHH für Kaohsiung, vor sich hält. „Ihr Flug fällt aus. Sie müssen den Zug nehmen“, sagt sie mir, „Hier ist das Geld.“ Ich denke an das chinesische Neujahrsfest, als sie mir den hierfür typischen roten Umschlag mit Geldscheinen und einigen Münzen überreicht.

Ich gebe es zu: Ich habe noch nie taiwanisches Geld besessen. Das regelt gewöhnlich alles meine Frau in Taiwan. Für meine Frau regelt das alles ihre Schwester, die ist schließlich bei einer Bank beschäftigt. In Taipei gestrandet. Wie erkläre ich das meiner Familie. Das eigene Handy geht nicht und zeigt nur einen horrenden Auslandstarif von 2,50 Euro/Minute an. Nachdem mein Koffer am Gepäckband aus der gebuchten Transportlinie ausgespuckt ist, arbeite ich mich mit Hilfe des Bodenpersonals an den öffentlichen Fernsprecher heran. Gut, im Umschlag sind eine 10-Taiwandollar- und eine 50-Taiwandollar-Münze. Mit den ersten 10 Taiwandollar sage ich Bescheid, dass niemand zum Flughafen in Kaohsiung fährt. Mit den 50 Dollar kaufe ich ein Busticket vom Flughafen zum Bahnhof des Hochgeschwindigkeitszuges. Damit bekomme ich zweimal 10-Taiwandollar wieder, womit ich dann wieder anrufen kommt, mit welchem Zug ich wann ankomme.

Interessant ist übrigens auch die Wegweisung im Flughafen. Zeigen zunächst großere Schilder mit Pfeilen den Weg zum Bahnhof des Hochgeschwindigkeitszuges, ändert sich die Bezeichnung nach zwei oder drei Ecken und einigen hundert Metern Weg in „Bushaltestelle zum Hochgeschwindigkeitszug“. Am Ziel finde ich verschiedene kleine Verkaufsschalter von Busgesellschaften, irgendwo steht klein auf einem Blatt Papier neben anderen Zielen mit Kugelschreiber „Bahnhof Hochgeschwindigkeitszug 30 Taiwandollar“.

Hier beginnt der Reisende zu spüren, das Taiwan das Land der „Convenience-Läden“ und einer „Convenience-Kultur“. Selbst als der Landesprache und -schrift Unkundiger ist immer Unterstützung und Hilfe da.

Geradezu vorbildlich ist der Bus vom Flughafen zum Bahnhof. Anders als in Frankfurt, wo die Reisenden den Bus quasi unkoordiniert stürmen und ihre Koffer dilettanisch in das Fahrzeug hereinknallen, was vom Fahrer durch Wegschauen oder demotiviertes Nörgeln quittiert wird, bilden die Fahrgäste eine Reihe zur Ticketkontrolle und Gepäckabgabe. Der Bustyp ist fast vergleichbar, aber der erfahrene und vollbeschäftigte Gepäckmanager, weiß wie Koffer, Reisetaschen und Rucksäcke optimal untergebracht werden, die Zugänglichkeit für die Reisenden gesichert ist und kein Schaden entstehen kann.

Das genau auf 1360 Taiwandollar abgezählte Geld der Fluggesellschaft für Bus (30 TW$) und Hochgeschwindigkeitszug (Taoyuan - Tzoying 1330 TW$) reichte wegen des Anrufs nicht mehr, so dass im Bahnhof die deutsche Kreditkarte mit Auslandszuschlag zur Anwendung kam. Ich kann mich noch an Jahre erinnert, als Airlines bei Problemfällen deutlich großzügiger und pfleglicher mit ihren Fluggästen umgegangen sind.

Sicherlich wird die Route über Hongkong nach Kaohsiung als Alternative jetzt für mich weiter vorne stehen. Da gibt es nämlich keinen parallelen Hochgeschwindigkeitszug oder eine Schnellbootverbindung, worauf die Reisenden verwiesen werden können. Zwar stand auf meiner Agenda schon länger die Fahrt mit Taiwans Vorzeigezug. So schnell und spontan hatte ich nicht an die Umsetzung der Idee gedacht.

Die Koffer stehen Schlange, um in Wagen 8 einzustiegen. In Deutschland wird erst gar nicht versucht, dass sich die Türen nach Halt des Zuges an einer markierten Position befinden. Offenbar weiß die Bahn selber nicht, welcher Zug kommt, wie lang er ist und wie die Wagen sortiert sind. Planaushang, Lautsprecherdurchsage und was dann tatsächlich im Bahnhof einlief, waren für mich bei Fernreisen stets drei verschiedene Dinge. Aber das sind natürlich alles nur persönliche Erfahrungen im Einzelfall.

Reservierung inklusive. Der erste Zug den ich hätte nehmen können, war ausgebucht. 18 Minuten später folgte der Nächste. Da bleiben auch Zugführer und Schaffnerin locker, wenn die Züge nicht überfüllt sind. Die schaffen es im Taiwan Shinkansen sogar, dass jeder in Fahrtrichtung sitzen kann. Das hat in Deutschland so richtig nur beim Schienenbus in den 1950er Jahren funktioniert.

Endbahnhof Tzoying in der Großstadt Kaohsiung.

Taiwans „Gao Tie“ (台灣高鐵) hat auf die Lebenswelt vieler Menschen starken Einfluss genommen. Die Hochgeschwindigkeitsstrecke wird die Wertigkeit von Räumen und ihre Struktur verändern, sie wird Wohlstand umverteilen. Erkennbar ist, dass weder die Menschen noch die Märkte darauf ausreichend beziehungsweise abschließend reagiert haben. Dabei geht es um sehr viel Geld und nicht nur darum, wie die Werbung verkaufen will, dass Menschen zum Spaß haben einfacher nach Kenting im Süden fahren können, im Grünen leben und in den Metropolen arbeiten oder zum Konzertbesuch nach Taipei sausen.

Es bestehen für mich Zweifel, dass die Absichten der Konzerne und politischen Netzwerke, wie aus dieser großen Investition Profit gezogen werden soll, angemessen gegenüber und in der Bevölkerung und Bürgerschaft diskutiert wurden. Das Projekt „Stuttgart 21“ ist im Vergleich zu den Wirkungen des „Gao Tie“ eine Vorgarteneisenbahn.